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03.11.2023

Reorganisation

Christophe Rippinger
Die Bifurkation des sozialen Raums ist gängige Praxis und überall beobachtbar, jederzeit. Der Mensch unterscheidet zwischen oben und unten, links oder rechts, wir oder sie, gut oder schlecht usw. Diese Liste ließe sich nahezu unendlich weiterführen. Die binäre Einteilung jedoch birgt ein Problem: was tun mit beobachtbaren Elementen, die sich weder eindeutig der einen noch der anderen Seite zuordnen lassen? Ich denke, das ist der Beginn der Differenzierung. Oder mehr sogar: der Reorganisation.

Es gibt in liberalen Demokratien prinzipiell nur wenige Möglichkeiten, wie sich politische Ideen eingliedern lassen. Entweder wird etwas dem linken Spektrum zugeordnet oder eben dem rechten. Plötzlich jedoch werden linke Themen von den Rechten aufgegriffen. Unterschiede verschwimmen, der außenstehende Beobachter weiß nicht mehr, in welche Richtung die Parteien schauen. Wird dadurch die Unterscheidung von links und rechts im politischen Raum obsolet? Ich denke nicht. Eine Partei, die sich den Ideen der anderen annähert, tut dies in der Regel, weil sie sich dazu gezwungen sieht. Wer bei Wahlen schlecht abschneidet, tut besser daran, sich im Anschluss zu reorganisieren. Was ist denn nun links, und was ist rechts? Wenig überraschend handelt es sich dabei um einen kontingenten Sachverhalt. Es handelt sich bei diesen Begriffen um leere Signifikanten im Sinne Ernesto Laclaus. Diesen Begriffen werden so viele Bedeutungen zugerechnet, dass sie am Ende für alles stehen können, und damit zugleich für nichts mehr stehen. Sie erscheinen hohl, leer. Die Linke der Spätmoderne hat recht wenig mit der ursprünglichen Linken aus der Zeit der französischen Revolution zu tun. Die politischen Inhalte haben sich im Laufe der Jahrhunderte verändert und den gesellschaftlichen Bedürfnissen angepasst. Die Unterscheidung links/rechts fungiert als funktionale Schaffung von zwei konkurrierenden Lagern, die die Differenzierung vorantreiben soll. Differenzieren heißt Unterschiede machen. Und Unterschiede machen bedeutet, den Status Quo vermeiden. Wenn also links und rechts sich auf die Mitte zu bewegen, kann man die Frage nach einem dritten Weg im Sinne Anthony Giddens stellen. Vielleicht kündigt dieser Umstand jedoch lediglich an, dass die politischen Lager dabei sind, sich zu reorganisieren. Die leeren Signifikanten werden mit neuen Inhalten gefüllt, ansonsten droht ihnen das Ende.

Differenzierung und Reorganisation lassen sich also auf zwei verschiedene Arten lesen. Die Differenz birgt implizit eine Differenz in sich. Die Ausdifferenzierung kann die leeren Signifikanten mit neuen Inhalten füllen und damit ihr Überleben sichern. Die Ausdifferenzierung kann jedoch auch dazu führen, dass eben durch sie die bestehende Unterscheidung obsolet wird. Die Unterscheidung mag dann nur noch einen historischen Wert haben. Doch was passiert in diesem Moment? Kommt es zu einer dritten Kategorie? Oder entsteht eine neue Einteilung des Spektrums in zwei Seiten? Ich denke, es lässt sich beides beobachten. Es kann sich eine außerparlamentarische Bewegung formieren, und im Anschluss parlamentarisch einverleibt werden. Als Beispiel ließe sich hier die Bewegung der Grünen nennen. Verlassen wir nun die Politik und schauen uns an, wie sich Reorganisation in anderen gesellschaftlichen Bereichen beobachten lässt.

Biologisch gesehen gibt es zwei Geschlechter. Ob man der einen oder anderen Seite zugeordnet wird, hängt von der Keimzellenproduktion ab: produziere ich Ei- oder Samenzellen? Der soziale Raum erweitert dann diesbezüglich die Komplexität, Individuen mögen sich unter Umständen nicht mit einer der beiden Seiten identifizieren. Die Lösung scheint einfach, eine Reorganisation des sozialen Geschlechts hat zu einer dritten Kategorie geführt, dem sogenannten dritten Geschlecht. Das dritte Geschlecht als Form der Ausdifferenzierung hegt keinen Anspruch, Teil der bestehenden Bifurkation zu werden. Es handelt sich dabei auch nicht um eine Art dritter Weg, das heißt als eine Art Mischform, die sich durch Elemente beider Lager kennzeichnet. Stattdessen handelt es sich dabei um eine Differenzierung, die den Anspruch erhebt, auf Dauer Bestand zu haben. Das Dritte Geschlecht soll die bestehende Bifurkation ergänzen, die Dyade wird aufgelöst und ihr wird ein Element hinzugefügt. Wir haben es nach der Reorganisation also mit einer Triade zu tun, die vor allem in liberalen Demokratien vorzufinden ist. Autoritäre Regimes und Diktaturen scheinen es dagegen zu bevorzugen, an der bestehenden Bifurkation der Geschlechtsidentität festzuhalten.

Eine frühe Form der Überwindung der binären Aufteilung des sozialen Raums lässt sich in der Wirtschaft beobachten. Das liegt vielleicht auch daran, dass die kapitalistische Wirtschaftsform auf Expansion und damit der Überwindung von Grenzen ausgelegt ist. Man macht sich den Kredit zunutze, indem man sagt, was der Kunde heute nicht zahlen kann, kann er morgen zahlen. Dass daraus schnell ein Zwang entstehen kann, lässt sich leicht erkennen. Der Kredit also sprengt die Status Quo Situation der Zahlungsfähigkeit/Unzahlungsfähigkeit des potenziellen Käufers. Der Kredit wird dabei gezielt so eingesetzt, dass der Kunde, der unzahlungsfähig ist, zu einem zukünftigen Zeitpunkt zahlungsfähig sein wird. Wir beobachten hier eine Triade, die die Wirtschaftsaktionen so umorganisiert, dass sie Handelsblockaden durch die Hinzunahme der Zeitdimension zu lösen sucht.

Etwas komplexer zeigt sich die Situation in der Kunst. Sie ist wohl so alt wie die Menschheit selbst, doch die Vorstellungen darüber, was Kunst ist, haben sich im Laufe der Zeit stark gewandelt. Die bourgeoise Vorstellung von Kunst als etwas Ästhetisches ist Teil der Vergangenheit. Es scheint so, dass vor allem die zeitgenössische Kunst darum bemüht ist, Grenzen zu verschieben. Leitunterscheidungen werden oftmals erweitert zum Beispiel durch Kombination mit anderen Dualismen. Es reicht nicht, schön oder hässlich zu sein, es kann zudem sinnlos oder verboten sein. Dieses Überschreiten der Grenzen fördert die Reorganisation, weil sie Aspekte in den Vordergrund setzt, die ansonsten außen vor sind. Zudem werden verschiedene Kunstformen zusehends vermischt, Performance ist hier eines der Zauberwörter. Musik wird verbunden mit Film oder Tanz usw. Zeitgenössische Kunst versteht sich also per se als Triade, als Versuch, die Bifurkation zu durchbrechen. Was sie zeigt, war vorher ungesehen, und wenn sie dennoch auf Redundanz setzt, dann mit Vorsatz. Ansonsten würde man wohl daran zweifeln, inwiefern es sich dabei um Kunst handelt.

Die Beispiele haben es gezeigt, Bifurkationen verbergen nicht selten dritte Elemente, die erst bei genauerer Betrachtung zum Vorschein kommen. Die Bifurkation muss sich in der Zeit bewähren, in ihr schlummert ein temporales drittes Element, dass neue Differenzierungen zum Vorschein bringen kann. Auch wenn die soziale Welt also binär kodiert erscheinen mag, mit der nötigen Zeit und Gestaltungsfreiheit lässt die Welt sich neu organisieren. Und nicht selten scheint es so, als sei eine Reorganisation der einzige Ausweg aus einer Situation, die festgefroren scheint. Die liberale Demokratie bildet dabei keine Ausnahme.︎

Christophe Rippinger, co-founder of Mnemozine, studies sociology at FernUni Hagen and is a writer and teacher.

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