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25.09.2022

Stille Tandtaten 2/3: Trichter

Sven Bloes

Funnel, 1785-1820, American, MET Open Access.
The following text is part of a triptych of German prose snippets by Sven Bloes, which will be published here over the following weeks. Object-centred and witty, they tell humorous stories with a philosophical twist.


In der Dorfmitte steht ein umgedrehter Trichter mit der schmalen Öffnung nach oben hin, unter dem sich nichts befindet. Bei seiner Einweihung wurde er hochgehoben, um zu bezeugen, dass sich auch nichts unter ihm befände. Nichts war zu sehen, nichts darunter.
Der Trichter steht nun bereits eine Weile in der Dorfmitte. Unter ihm befindet sich nichts. Daran glaubt jeder. Niemand hat je etwas durch die schmale Öffnung in ihn hineingelegt. Niemand hat ihn je nach der Einweihung aufgehoben. Daran glaubt jeder.
Auch weiß jeder, dass jeder daran glaubt, dass nichts unter dem Trichter liegt. Jeder weiß, dass etwas unter ihm liegen könnte. Dass jemand etwas hineingetan hätte. Dass jemand ihn heimlich aufgehoben hätte. Jeder weiß, dass niemand wissen kann. Doch jeder glaubt an die Reinheit des Trichters. Unter ihm befindet sich nichts. Jeder glaubt jenes, an das er nicht glauben kann, sondern muss. An die Reinheit der Anderen. Bestimmt hat jemand etwas hineingetan. Bestimmt hat ein Bube sich einen Spaß erlaubt, sein unglaubhaftes Geheimnis. Oder es ist etwas ganz von alleine hineingefallen. Aus Zufall, jemandem aus der Hand, in die schmale Öffnung hinein, ein Papierknöllchen, ganz ohne es zu wollen, oder von einem Baum hinab, ein zusammengerolltes Blättchen vielleicht. Es muss also etwas darunter sein, unter dem Trichter. Das weiß jeder. Doch niemand glaubt es. Unter dem Trichter befindet sich nichts. Das muss jeder wissen. Jeder weiß es zu glauben. Sich selbst zu belügen. In dem Sinne, die Anderen nicht zu belügen. Denn die Anderen wissen ja auch, dass nichts unter dem Trichter liegt. Doch es glaubt niemand, dass die Anderen es wissen, denn niemand kann es wissen. Sicherlich hat jemand etwas hineingetan. Das weiß jeder. Und jeder glaubt es. Niemand wird es zugeben.
Der Trichter bleibt also für immer leer. Unter ihm wird sich nie etwas befinden, auch dann nicht, wenn er von Dingen überquellen wird, die oben aus der Öffnung hinaustreten werden. Auch dann wird er immer wieder befüllt werden, jeder weiß es, jeder glaubt es, niemand glaubt es im Angesicht des Anderen, jeder trägt Mitschuld an der Unschuld, an dem lügenden Leugnen.
Was wird wohl passieren, wenn der Trichter umfällt? Bestimmt vom Winde umgeworfen. Kein zielender Fuß hatte ihn je berührt, das glaubt jeder. Dann kommt der Schmutz, der sich mit der Zeit angesammelt hat, zur Erscheinung. Der Schmutz, der nicht existiert. Also gar kein Schmutz sein kann. Nichts sein kann. Nichts sein muss. Also doch, unter dem Trichter befand sich nichts. Der Trichter stellt das Unter-Sich-Befindende, also das Nichts, in seiner Umgefallenheit, bloß. Er wird von der Dorfgemeinde weggetragen.
Unter dem Trichter befindet sich nichts. Der Trichter befindet sich nämlich nicht. Welcher Trichter? Niemand glaubt an Trichter. Was ist ein Trichter? Niemand weiß es.︎

Sven Bloes studied German literature and language. He writes down all kinds of things, be it prose or poetry, satire, essays or analyses of movies or texts. Sometimes, he shows tiny bits on his Instagram @zve_ blo 

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